„An aesthetic revolution is not a revolution of the arts. It is a revolution in the distribution of the forms and capacities of experience
that this or that group can share.“ – Jacques Rancière, 2019 *
Die Mühle war noch verschlossen. Ein erster Blick fällt durch die Metallstäbe des großen Tores. Im Rücken stehen die aufgeräumten Fassaden einer Wohnsiedlung, die parkenden Autos am Straßenrand davor. Du willst dir ein Bild von dem Ort machen und versuchst das verlassene Industriegebäude zu umrunden. Du gehst die Oeverseegasse an einem Zaun entlang, der ist einige Meter geflickt, dann gepflegt. Du gehst links durch das Tor in einen Park. Vom weitläufigen, ordentlich gestalteten Oeverseepark siehst du die Türme über dichte Bäume ragen. Die Bäume schließen die Grünanlage nordöstlich hinter einer Hundezone ab und verdecken den Rest des Mühlengeländes. Eine kleine Brücke führt über den Mühlgang zum Gelände der „Geriatrischen Gesundheitszentren Graz“, der Zugang wird dir durch ein „wegen Corona“ verschlossenes Tor verwehrt. Den Radius vergrößernd ist es dir möglich, das Gelände von der anderen Seite zu betreten. Du schlängelst dich hindurch, vorbei an den Pflegewohnheimen, Tageszentren, betreuten Wohnformen sowie der Albert Schweitzer Klinik mit Wachkoma-Department, Akutgeriatrie, Remobilisation, medizinischer/palliativer Geriatrie, bis hin zum Hospiz. Durch den Zaun vor dem Hospiz spähst du in den verwilderten Hinterhof der Mühle und du siehst, den Kopf hebend, auch hier die massiven Türme emporragen. Als dann gerade ein Auto das Gelände der Kliniken verlässt, huschst du durch das sonst verschlossene Tor mit hinaus, um den Kreis um das Mühlengelände fortzusetzen. Umgenutzte Industriegebäude stehen hier; alt, massiv, aber nicht verwildert. Zur Mühle nächstgelegen der „AKDAG Supermarkt“, vor dem stetige An- und Abfahrten von Autos sowie ratternde Einkaufswägen einen Parkplatz beleben. Richtig positioniert, entdeckst du auch von hier ein Stückchen Mühle.
Trotz ihrer immensen Größe und zentralen Lage siehst du immer nur kleine Ausschnitte, versteckt hinter einem Raum, der an der Grenze sein Ende findet. Eingebettet in den städtischen Kontext bildet sie eine Lücke, ein Vakuum zwischen Lebensrealitäten, die sich nicht wirklich begegnen. Die Wohnsiedlung und das Hospiz sind von dem Leerstand getrennt. Allein der Mühlgang fließt stetig hindurch, unterscheidet nicht zwischen den unterschiedlichen Gegenden von Graz. Orte enden hier an der Grenze zur Stille, die sich erst beim näheren Herantreten als Turbinenbrummen, Entenschnattern und Glassplitterknirschen unter den eigenen Füßen entpuppt.
Dort unten in der Mühle / Saß ich in guter Ruh / Und sah dem Räderspiele / Und sah dem Wasser zu.
Lange schon stand die Rösselmühle an diesem Ort[2]. Der Mühlgang[61]konnte das Mühlrad leicht drehenKorn wurde zu Mehl[21]gemahlen und mit der Zeit erweiterte und verbesserte man Gebäude[18]und Technik[19]. Doch nach vielen, vielen Jahren wurde die Mühle den Anforderungen der modernen Mehlproduktion nicht mehr gerecht. Man befand sie für nutzlos, entschied, ihr Inneres[43]zu verkaufen[44]und die Produktion an einen anderen Ort zu verlagern. Während man nun das Rösselmehl anderwärts in größerer Effizienz produzierte, wurde die Rösselmühle ruhig und die direkten Nachbarn beschwerten sich nicht darüber. Leere Gebäude stehen noch, doch ihre Bedeutung als Mühle verwischt, verfällt, stürzt ein. Als Mühle ist sie nutzlos. Das Gebäude ein Pflegefall. Wann ist die Mühle keine Mühle mehr?
Sah zu der blanken Säge, / Es war mir wie ein Traum, / Die bahnte lange Wege / In einen Tannenbaum.
Pflanzen wuchern[6] in einem verbrannten Gebäude am Rand des Geländes. Die Nachbarin ruft aus Angst die Polizei, als sie Geräusche von splitterndem Glas hört. Über den schon labil eingedellten Zaun gesprungen können die vier Einsatzkräfte die befürchteten Jugendlichen nicht festnehmen. Ein Vertrag mit der Besitzerin legitimiert die Präsenz der randalierenden Künstler*innen[76], die zerbrochene Fenster mit einem Hammer von möglichen Verletzungsgefahren säubern, um die Auflagen für Veranstaltungen zu erfüllen. Handläufe werden angebracht[70], Löcher geschlossen[42], Stoßkanten markiert[37], Stolperfallen beseitigt[38], Statik geprüft[71], Toiletten in Betrieb genommen. Aus dem Arbeiterhaus[13]fällt wieder Licht auf die Straße.
„Was passiert jetzt damit?“, fragen neugierige Passanten. Wie der Standort entwickelt werden wird, ist ungewiss. Die Künstler*innen vor Ort diskutieren am Rande ihrer Arbeit, was die Mühle konzeptuell bedeutet, wofür sie steht, was sie dokumentiert, aber auch was sie über den Begriff der Arbeit zu erzählen vermag. Arbeitend wird eine Beziehung zu dem Ort aufgebaut. Das Projekt OEVERwerk vereint die diversen Beziehungen künstlerischen Arbeitens zu dem Ort in seinem Sein. Die Werke sind keine Theorie, sie werden Teil einer Landschaft aus unmittelbar physischen Wahrnehmungen, die von Moment zu Moment in der Aufmerksamkeit der Wanderer erscheinen, verweilen und verebben.
Die Tanne war mir lebend, / In Trauermelodie, / Durch alle Fasern bebend / Sang diese Worte sie:
Gulaschsuppe XL, Chili con Carne und Heringsfilets in Senfsoße. Pragmatisch umfunktionierte Dosen mit verschrumpelten Zigarettenstummeln stehen in den Nischen jeder Etage des Treppenhauses der Mühle. Kabel hängen von der Decke, einiges an Kupfer fehlt bereits. Da liegt ein geplättetes Mäuseskelett auf dem staubigen Boden. Ein menschendominierter Gabelstaplermoment aus der Zeit des großen Leerräumens? Einige Räume im Wohnhaus sind wieder bewohnbar. Sie sind geleert, gesaugt und gewischt, während andere nur mehr von aufgeschichteten Müllhaufen gefüllt sind. Zwischen den zusammengeworfenen Dingen eine Matratze, auf der eine in Lei bezahlte Medikamentenpackung lag. In der letzten eingerichteten Wohnung steht zwischen einer aufgeschlagenen Bettdecke, Schuhbürsten und verkalkten Wasserhähnen eine als Kerzenteller verwendete Untertasse auf antikem Mobiliar, deren Unterseite mit einem Hakenkreuz bedruckt ist. Das Fischgrätparkett aus dem oberen Stock befindet sich in Belgien. Die Wände in der Mühle sind mit Mitteilungen und Farben dekoriert. Überall auf dem Gelände sieht man einen stummen Kampf in geflickten Zäunen und Türen. Schwarze Käfer haben den Sieg über das Untergeschoss errungen. Abgepacktes Mehl liegt vereinzelt und aufgeplatzt am Boden, dazwischen verstreute Skelette und Federbatzen von verirrten Tauben. Durch die Mehlschichten am Boden ziehen sich dünne Linien.
Jeder Wanderer hinterlässt eine Spur[69]. Wir können nur vermuten, was die Intention der Aufenthalte in diesen Gebäuden war, ist oder sein wird. In der Hülle der verfallenden Architektur changiert der Ort zwischen Abenteuerspielplatz, Materiallager, Futterquelle, Fundort, Friedhof, Lebensraum, Ausstellung, Museum, ...
Du trittst zur rechten Stunde, / O Wanderer, hier ein, / Du bist’s, für den die Wunde / Mir dringt ins Herz hinein.
Löcher und Schrauben lassen erahnen, wo die Maschinen standen[48]. Zwischen ihnen spannte sich eine Choreografie aus Abläufen durch das gesamte Gebäude[15]. Arbeiter, Werkzeuge und Material bewegten sich in organisierten Rhythmen[73]. Physische Prozesse veränderten Konsistenzen. Dann nannte man das Korn nicht mehr Korn, sondern Mehl[27]. Dann nannte man den Arbeiter nicht mehr frisch und munter, sondern streichfähig[28]. Das Verständnis für die Organisation der Abläufe und deren Raumvolumen bildete die Grundlage der Architektur. Das Gebäude wuchs[3], um stetig eine formale Lösung für die Anforderungen der zeitgemäßen Mehlproduktion zu bieten.
Man sieht dem Gebäude die voluminösen Bewegungen an. Man hört die unermüdliche Energiegewinnung aus dem rauschenden Mühlgang und in der dröhnenden Turbine[62], spürt in Beinen und Lunge, was es bedeutet, Gewicht in die Höhe der Türme zu bewegen[16, 96], sieht von außen hinaufschauend die potenzielle Energie gelagerter Masse in den Silo-Türmen über sich ragen[62], entdeckt Förderbänder[74], auf Mehlsäcke konfektionierte Paletten[53]und die breiten Keilriemen, die an der Antriebswelle nur noch hängen[63]. Insgeheim würde man gerne die gezwirbelte Rutsche durch das ganze Gebäude hinunterrutschen[48, 55]. Der Ort vereint eine Vielzahl unterschiedlicher Raumqualitäten. Ecken, Kanten, Flächen in unterschiedlichen Größenverhältnissen stehen im Verhältnis begründbarer Funktion zueinander. Antreiben, transportieren, lagern, verarbeiten ... Das Bewegungsrepertoire des Mehlmahlens ist in den Körper der Mühle eingeschrieben, in seinen Raumvolumen und Raumverbindungen. Die Atmosphäre schmeckt noch heute nach Bewegungen.[84]
Du bist’s, für den wird werden, / Wenn kurz gewandert du, / Dies Holz im Schoß der Erden, / Ein Schrein zur langen Ruh.
Weg von der Mühle, die Rösselmühlgasse hoch Richtung Griesplatz, ist es laut, rege und wuselig. Ein Kubus ragt empor[95]. Das Gebäude ist verglast. Links geht sichtlich das Treppenhaus empor. Der größte Teil des spiegelnden Glases ist mit einem überdimensionalen Muster versehen. Auf dem Kubus ist das Markenlogo der Firma A1 zu sehen, die Services für mehr als 5,1 Mio. Mobilfunk- und rund 2 Mio. Festnetzkunden anbieten. Die Vermutung, dass hier Menschen an Schreibtischen vor Computern sitzen, scheint nicht allzu weit hergeholt. In dieser Körperhaltung mit den dazugehörigen Bewegungen, die sich hauptsächlich in Fingern und Augen abspielen, könnten die nicht sichtbaren Menschen ebenso gut die Infrastruktur der Flugverkehr-Verwaltung pflegen, mit Ökostrom handeln, politische Reden schreiben, Krankenkassenmitglieder verwalten oder remote kontrollieren, ob die Vitalfunktionen der gechippten Kühe im automatisierten Stall Anomalien aufweisen.
Wie viele Menschen befinden sich wohl in diesem Moment in der gleichen Körperhaltung, erleben physisch eine ähnliche Situation? Welchen Einfluss hat die Praxis einer Arbeit auf den Bezug zur Umgebung? Auf den Bezug zum eigenen Leben? Wie formt sie die Räume, in denen wir uns bewegen? Wie formen die Räume uns? Welche Landschaften aus unmittelbar physischen Wahrnehmungen, die von Moment zu Moment in der Aufmerksamkeit erscheinen, verweilen und verebben, betreten wir im Laufe unseres Lebens? Was betraten wir? Was verließen wir?
Vier Bretter sah ich fallen, / Mir ward um’s Herze schwer, / Ein Wörtlein wollt’ ich lallen, / Da ging das Rad nicht mehr.
Schauen wir zurück: War es eigentlich schön?
Folgten wir der Logik der theoretischen Kategorisierung als „schön“ mittels des Verstandes, lautete die Antwort, dass es zuerst einer ästhetischen Bildung bedarf, um etwas als „schön“ beurteilen zu können. Die Ästhetik, die bis ins 19. Jahrhundert als Theorie von Kunst und Schönheit beschrieben wurde, reiht sich in das hierarchische Denken des Verstandes über dem „triebhaften“ Körper. Dabei bedeutet der aus dem Griechischen stammende Begriff der Ästhetik Wahrnehmung/Empfindung. Bis in den heutigen Sprachgebrauch wird jedoch „ästhetisch“ mit „schön“ verknüpft. Der Philosoph Jacques Rancière umreißt historisch das Bedürfnis, die Kunst in der Gesellschaft über den Begriff der Ästhetik als Theorie der Schönheit zu rechtfertigen und zu schützen. Er argumentiert, dass Kunst in einem „Regime der Repräsentation“ die Funktion gehabt habe Glauben und machthabende Menschen darzustellen. Den künstlerischen Blick auf das einfache Leben zu richten, sei ein sozialer Wandel und politischer Schritt gewesen. Auf einmal stünde in der Malerei ein König gleich mit einem Bauern und Werke bekamen ihre eigenen Orte abseits der herrschaftlichen Wände. Der von Rancière als „Regime der Ästhetik“ bezeichnete Wandel sah sich der Herausforderung gegenübergestellt, Kunst um der Kunst willen gesellschaftlich zu praktizieren und zu verteidigen. Dieser Umstand habe das Verständnis von Kunst über den theoretischen Bereich der Ästhetik in den Bereich der Bildung gerückt, die natürlich nicht allen Menschen im gleichen Maß zugänglich war und ist. Rancières frühe Arbeit betrachtet die Forderungen der
„Arbeiterklasse“, ebenfalls einen Zugang zu einer ästhetischen Dimension des Lebens zu haben, als ein Sich-Auflehnen gegen die Logik, dass Arbeiterinnen nur als Arbeiterinnen denken könnten. Er beschrieb damit den Zugang zu Ästhetik in seiner politischen Dimension.
Definiert man die Ästhetik nun nicht als einen Begriff der theoretischen Auseinandersetzung, sondern dem begrifflichen Ursprung folgend als „das, was die Sinne bewegt“, steht man einem der egalitärsten Begriffe überhaupt gegenüber. Die Fähigkeit, unsere Umwelt über Sinne zu erfassen, macht die Ästhetik zu einer Ebene des Begreifens, die die Hierarchien im Zugang zu Bildung aushebelt. Ästhetisches Erleben zugänglich zu formen, ist eine Arbeit, die nicht die Organisation, sondern das Wesen einer Gesellschaft gestaltet, eben die Frage, wie geboren, gelebt und gestorben wird.[95]*